Darius Gircys

Die Heimreise

2010

I

Franz Pichler saß im halbvollen Waggon am Fenster. Die Ohren fest mit den Händen zugedrückt, den Blick starr auf die Knie gerichtet. Vor dem Fenster adrette Häuser auf gepflegten Grundstücken. Als ob ihn das interessierte, verlangsamte der Zug die Fahrt. Die mitreisenden Hausbesitzer taxierten ihr Eigentum ohne ihre Gesprächsthemen zu wechseln. Von hinten drängten gedämpfte doch aufdringliche Satzfetzen an Franz' Ohr: „Wie geht's“?, „War nicht gerade billig.“, „War nicht da.“, „Weißt du noch?“, Fetzen, die sich, die Gehörgänge entlangrollend, zu einer klebrigen, einheitlichen Masse wanden, sich aufspulten zu einer immer wuchtiger werdenden Walze und anschwollen zu einem unerträglichen, jegliche Grenzen überschreitenden Rauschen, wogegen selbst die an die Ohren gepressten Hände keinen Schutz mehr bieten konnten. Franz streckte den Rücken und zog aus seinem Rucksack eine Mütze, die eine Veränderung seiner Lage herbeiführen sollte. Das Aufsetzen der Strickmütze mit dem kleinen Schirm würde ihn unsichtbar werden lassen für neugierige Augen und unerreichbar für störende Geräusche. Das hatte Franz der Verkäufer auf dem Flohmarkt, derweil er ihm mit der Mütze vor der Nase herumwedelte, nicht einfach nur kundgetan, sondern garantiert. Man müsse sich entkleiden, erklärte er dem etwas überraschten Franz mit distanzierter Leierstimme. Wie ein Perverser, der ihn mit List ins Schwimmbad gelockt hatte, sprach er flüsternd, ja, und die Mütze über beide Ohren ziehen. Ist klar, bei diesem entsetzlichen Getöse, da mußt du sie dir über beide Ohren ziehen. Mit seinem zerzausten Vollbart und dem irrlichternden Blick erinnerte der Händler Franz an den heruntergekommenen Sokrates. Seine Nase war krumm gewachsen, im Munde fehlten ihm die Schneidezähne und er lispelte als er von über--sss--iehen sprach. Durch die Löcher im Pullover schimmerte ein schmutziger Hängebauch. Sokrates hatte sich zwei Strickmützen auf den Kopf gestülpt, weshalb dieser eine seltsam längliche Form zu haben schien, und schlürfte eine dampfende Brühe aus einer Werbetasse - „Unsere Zeitung: der Tag der Abrechnung für alle“. Der Tag war so kalt, dass Franz' rote Ohre leuchteten wie Kirchenfenster im Sonnenuntergang. Das Eis, das die verrosteten Regenrinnen überzogen hatte, glitzerte wie Schokoguß. Bei der der Betrachtung dieser Schokolade schmerzten empfindliche Zähne. Die Sonne war nicht mehr zu sehen, der Tag graute ein und begann allmählich ins Schwarze überzugehen. Für einen zufälligen Passanten mochte Franz wohl einem alternden Studenten ähneln, der am Wochenende im Park Flaschen sammelte, um sich etwas hinzuzuverdienen. Andere Gestalten verdienten sich ihren Bissen Brot auf dem Flohmarkt mit dem Sammeln von Flaschen, oder seltener Buntmetall – aber auch mit Kleindiebstählen. Sokrates bot seine in Müllcontainern gefundenen Schätze direkt aus einem vergammelten Einkaufswagen feil, in dem, in seltsam gestreckter Haltung eine Katze döste, als wollte sie im Traum über einen riesigen Graben in einen anderen Traum springen. Beim Bezahlen der 50 Cent für die Wundermütze erkundige Franz sich noch, wie viel denn der Teppich, genauer gesagt das aus dem Teppich ausgeschnittene grüne Rautenornament, koste. Sokrates wehrte bissig ab, der Teppich sei un--ver--käuf--lich. Franz dachte, die Katze sei totenstarr und wollte sie mit dem Finger stupsen, doch Sokrates riss verärgert zischend den Einkaufswagen zurück. Die Katze atmete doch nicht, stellte Franz beim genaueren Betrachten ihrer eingefallenen, sich nicht bewegenden Flanken fest, während sein Blick tiefer schweifte. Und diese Schuhe, wie ausgelatscht Sokrates Schuhe waren! Das einstmals teure schwarze Schuhwerk war jetzt graubraun und entlang der Sohle mit einer kalkig weißen Salz- und Schmutzkruste überzogen, die Schnürsenkel fehlten. Socken trug Sokrates keine. Franz trug zwei verschiedenfarbige zerrissene Socken, doch in den zugeschnürten Schuhen sah das niemand. Auf einen ziellos durch das vermüllte Labyrinth des Flohmarkts streifenden Passanten hätte das Bild der zwei in einem Winkel feilschenden Männer einen bedrückenden Eindruck gemacht; aus dem Winkel stank es nach Urin; die Verkäufer gingen bereits auseinander, während der Spätherbstwind von der nahegelegenen Tankstelle einen Hauch von Benzin und Schmieröl heranwehte. Als ob er dem Wunder zur Geburt verhelfen wollte, verlangsamte der Zug sein Tempo. Franz zog die Mütze über und entschwand. Die Bank blieb leer, nur sein abgewetzter Rucksack lehnte am Sitz, eine Schachtel Zigaretten lag auf dem Tisch. Der Zug glitt über die Brücke in Richtung Hauptbahnhof. Grelle Lichter und Schatten, eben erst über Gesichter und Wände gehuscht, warfen vergebens ihre Netze über die leere Rückenlehne, an die sich eben noch Franz gestützt hatte. Während der Anfahrt auf den Hauptbahnhof waren erneut adrette Häuser in gepflegter Umgebung zu sehen. Unkraut fand da keinen Lebensraum. Dort auf dem Fußballrasen standen schweigend bunt dekorierte Gipszwerge aus Polen, während Igel- und Entenfiguren die Hälse emporreckten und die sich am Himmel bildenden Wolken zählten. Über die Jahre hinweg hatte es die Kleinstadt geschafft, die Reinheit ihres Dialekts zu bewahren, indem sie keine Fremdsprachigen hereinließ, doch die Zeiten änderten sich ohne Rücksicht auf die Wünsche der unter Trommelwirbel und wehenden Fahnen marschierenden einheimischen Bevölkerung zu nehmen. „Die Zeiten ändern sich, sagte Lübke, der Fahnenträger der NPD-Gruppe, und fügte nachdenklich an, denn überall mangelt es an Dienstpersonal“. Franz sah ihn aus seiner Unsichtbarkeit heraus an und grinste. Der aggressiv aussehende Lübke erinnerte ihn an einen dicken freundlichen, nach Luft schnappenden Karpfen im Sonntagsanzug aus einem Zeichentrickfilm. Einige der Fahrgäste, die mit ihren Koffern in der Hand auf den Ausstieg warteten, blickten in Richtung des Fensters, an dem eben noch Franz gesessen hatte. In Richtung Fenster blickten Lübke, der Zahnarzt, der Bäcker und ein unbekanntes Fräulein. Missmutig blickten in südlicher Sonne gebräunte Fotomodelle und Immobilienmakler in Anzügen. Die Kassiererin, einige Postbeamte,der Inhaber eines Zoogeschäfts verstanden nicht, was hier ablief. Einige von ihnen kannten Franz seit seiner Jugendzeit. Ein paar der ziemlich runzligen Gesichter waren noch zu erkennen. Der unsichtbar gewordene Franz hatte sich entspannt und observierte das Gewoge um ihn herum. Sein Kopf erhitzte sich unter der Strickmütze, der Körper kühlte ab, denn er hatte sich nämlich bis auf die verwaschene Unterhose ausgezogen. Ein ehemaliger Geographie- und Sportlehrer starrte ihn mit derart nachdenklicher Intensität an, dass Franz mit mit dem Wunsch kämpfte, die auf dem Tisch liegende Zigarettenschachtel zu verbergen. Mit unsichtbarer Hand hob er die Zigaretten auf und stopfte sie in den Rucksack. Anders ausgedrückt: Die Zigaretten hüpften von selbst in den Rucksack. Zu Beginn der Fahrt hatte der Lehrer hinter der weit aufgefalteten Zeitung gesessen und durchs Waggonfenster in die Vorstädte geblickt, als ob er zu einer Friedenskonferenz in Afrika unterwegs wäre. Beim Lesen berührte er mit zwei Fingern das dünne Geißbärtchen und kreuzte behaglich die Beine. Die hervorlugenden weißen Socken betonten das glänzende Schwarz der Schuhe. Er gab sich Mühe, Menschen die ihm unakzeptabel schienen, nicht anzuschauen. Unakzeptable Menschen existierten für den Lehrer nicht und er vermied es, sie zu grüßen. Man könnte den Eindruck gewinnen, als ob er sie überhaupt nicht wahrnehme. Franz mutmaßte, dass der Lehrer die Menschen unterteilte: in jene, die einen Klimmzug schafften, und solche, die ihn nicht schafften. Diejenigen, die Klimmzüge schafften, teilte er in Gläubige und Ungläubige ein. Die Gläubigen in sonnengebräunte athletische Jungen und andere. Auf diese Weise schlich er sich wie eine Katze an die Maus an, an sein Ideal, sein Objekt der Begierde. Doch nun starrte der Lehrer nachdenklich über die in schwarze Tücher gewickelten Häupter unbekannter, übergewichtiger Frauen hinweg in Richtung Franz. Die ungebildeten Weibsbilder keiften gestikulierend vor seiner Nase in einer unbekannten Sprache und hinderten ihn daran, sich zu erinnern. Dreißig Jahren zuvor hatte ein junger Mann mit sehr ähnlichen Gesichtszügen aus seinen Händen das Abschlusszeugnis des Gymnasiums empfangen. Hatte er es oder nicht? War er es oder nicht? Hier auf der Bank hockte ein nackter älterer Mann, schaukelte, eine zerrissene Wollmütze über die Augen gezogen, hin und her, murmelte etwas, brabbelte und schwitzte. Er murmelte ununterbrochen etwas in gedämpften Lauten vor sich hin. Jetzt rieb sich der Lehrer die Augen und putzte die Brille – als sähe er Jesus Christus am Bahnhofskiosk ein Bier kaufen. Er sah die Zigarettenschachtel im Rucksack verschwinden. Er stand auf, wollte den Ekel erregenden Anblick möglichst schnell hinter sich lassen, nur raus aus diesem Waggon, doch da glitt er aus, denn er war in Gedanken gewesen und hatte zu lange hingestarrt, nein, nur das Bein nicht über den Koffer gehoben, und knallte mit der Nase auf eine Ecke der Sitzbank. Mitleidige Blicke umstehender Kleinstädter, Blut floß aus der Nase, man half ihm beim Aufstehen, als ob man sich schuldig fühlte, dass der nackte Franz bedauerlicherweise noch immer ein wenig sichtbar war, dass er alle irritierte und stur niemanden grüßen wollte, während der Lehrer blutete. Es schien eher danach, als glaubte er weiter an die Kraft der magischen Mütze. Die Muskeln waren schwammig, der Bauch hing in Wülsten, Schweißtropfen glänzten auf der Brust und tropften auf nervös zitternde Beine mit geschwollenen Venen. Als sei er in die Lösung einer Aufgabe vertieft, hockte also der unsichtbare Franz auf der Bank. Er glaubte, dass alle Fahrgäste (X) des langen Zuges (Z) sich vorsichtig in seinen Waggon (Y) begaben, um den leeren Platz, an dem er noch vor kurzem gesessen hatte, anzuschauen und durch die wenige Meter entfernte Tür auszusteigen. Die zaghaften Bewegungen der Vorbeigehenden X erinnerten ihn an Pinguine, die über das Eis spazierten. Wie viele X waren es, die mit leicht verstörten Gesichtern oder mit von Ekel erfüllten Gesichtern, mit Gesichtern voller Mitleid, die, wie er dachte, leere Sitzbank anstarrten? Er zählte mehr als dreißig, bevor er mit dem Zählen durcheinander kam. Die höfliche Delegation stieg aus, bemüht, weder mit Wolle noch Seide einander zu berühren – bitte, Sie zuerst, neiiin, verzeihen Sie, nach Ihnen. Die Aussteigenden bemühten sich, den leeren Sitzplatz von Franz zu übersehen und verdrehten verschämt die Augen in eine andere Richtung. Endlich forderte der Bahnhofsvorsteher alle über Lautsprecher auf, von den sich schließenden Türen zurückzutreten. Wie Moses zählte er die Namen ferner Haltepunkte auf dem Weg durch die Exodus-Wüste voller rutschiger Eisberge auf und wünschte eine angenehme Reise. Draußen vor dem Fenster ein Herbst, wie er im Buche steht, die Gruppe der Passagiere eilte ins Licht des Wartesaals, dann verlor Franz sie vollständig aus den Augen. Der Zug setzte sich vorsichtig in Bewegung. Der unsichtbare Franz nahm, als ob er aufgrund seines Benehmens leichte Gewissensbisse verspürte, die Strickmütze ab. Nun allein im Waggon geblieben drehte und wendete er überrascht die wie aus dem Nichts aufgetauchten wohlbekannten Hände eines alternden Mannes mit den ungepflegten Fingernägeln und der roten Haut, ließ sie dann schwer auf die weißlich hervorstehenden Suppenhahn-Knie fallen und hob sie erneut, um mit leicht zitternden Fingern die schütteren Schläfen zu berühren.

II

Cousin Josef, gezwängt in einen engen sandfarbenen Anzug, hörte höflich zu. „Weißt du noch, meine selige Mutter“, erzählte der in der Tür stehende Robert seinem Cousin, „war Ärztin aus innerer Überzeugung. Sie bläute, solange er noch am Leben war, meinem Vater ein und dann auch mir, dass es nur drei wirksame Heilmethoden gebe. Methode A – eine Doppelportion Aspirin, dann ab ins Bett und warten, bis es vorbei ist. Falls es schlimmer wird, ab ins Krankenhaus. Es gibt auch Methode B. Nichts tun und falls es nach einem Tag noch nicht vorbei ist, auf direktem Weg ins Krankenhaus wo wiederum niemand weiß, wie es ausgeht. Und falls du A und B vermeiden willst, höre aufmerksam darauf, was dir dein K sagt.“ „Und wer oder was ist dieser K?“, fragte Cousin Josef zögerlich. Er war einige Jahre jünger als der an einen übergewichtigen Jäger erinnernde Robert und hatte etwas von einem Hasen, war einen ganzen Kopf kleiner und fegte sich ab und an nervös die Schuppen von den schmalen Schultern. Josef wollte nicht als Ahnungsloser gelten. „Vielleicht Kultur“, sagte er leise und bekam sofort einen roten Kopf. „K steht für Körper“, schoss Robert zufrieden hervor und gab dem verdatterten Josef einen Klaps auf die Schulter. „Ich höre auf die Zeichen meines K“, sagte Robert und blickte weiter stechend in die unruhigen Augen des Cousins. Gewiß, falls Robert beispielsweise laut fragen würde, ob er, Joschi, am Wochenende die aktuellsten genoppten Kondome getestet habe, hätte er unter Garantie eine höfliche, Wendung über etwas vollkommen anderes gefunden, die der Frage ihre scharfen Kanten genommen hätte. Doch Robert hielt seinen bohrenden Blick weiter auf Josef gerichtet. „Wie alt würdest du mich schätzen, Joschi?“, entfuhr es ihm, während seine Brust anschwoll und sein Bauch sich einzog. Er presste kurze pfeifende Laute zwischen den zusammengekniffenen Lippen hervor, so dass sogar die Adern auf den Schläfen hervortraten, die Wangen bliesen sich auf. „Maximal 40“, erwiderte Josef nach intensiver Musterung, obwohl er ganz genau wusste, dass dem nicht so war. Robert kniff beide Augen so zu, dass er aussah, als stammte er aus einem Mongolenreservat hinter den sieben Bergen, und neigte sich zufrieden an Josefs Ohr. „In Wirklichkeit bin ich schon 54! Doch das nimmt mir niemand ab, denn ich höre ganz genau auf meinen K. Ich stehe um sieben auf, und dann sagt mein K, mit zerzaustem Haar bequem auf dem Bett sitzend ganz langsam: 'Gib mir Magnesium!' Nach Einnahme des Pülverchens werden meine Augen sofort klarer, die Beine sind nicht mehr verkrampft, alles scheint bestens, doch dann stänkert er bereits wieder, mein K: 'Gib mir sofort einen Rollmops. Aber ruckizucki!' Ich renne in den Laden und kaufe ihm nicht nur einen, sondern gleich ein volles Glas. Dann kaue ich langsam und während ich den dritten Rollmops schmatze und schlucke, spüre ich, das Säuerliche, das mag er besonders. Dann sendet er ein Signal von innen, der K., er ruft: 'Ich verlange Brot! Gurke! Jetzt!' Noch ein Signal, er schreit: 'Jetzt ab aufs Klosett!' 'Ja, sofort!', rufe ich ihm zu. 'Mit Vollgas!' Da kommt raus, was rauskommen muss, wie mir Gastroenterologe Krause wiederholt bestätigt hat. Die Uhr der Natur geht nie falsch, sagte er noch. Morgens und abends. Es geht auch genauer: 7:35 und 18:45.“ Robert dachte kurz nach, als ob er befürchtete, einen wichtigen K-Zeitabschnitt zu vergessen. „Ach ja, wir kommen abends von der Arbeit nach Hause und gehen duschen. Erst lauwarm, zum Schluss kaltes Wasser auf die Beine wegen der anschwellenden Venen. Hygiene und Blutzirkulation sind meinem K sehr wichtig. Phosphor ist essenziell fürs Gehirn. Das Hirn, Joschi, ist die größte erogene Zone meines K. Stimmt, dort ist meist ein Klopfen zu hören, nein, ein immer lauter werdendes Trommeln in den Schläfen, dazu ein furchtbares Rauschen der Gedanken – erst nach dem Verlassen der Dusche, während ich dem erhitzten K die Hose überziehe, beginnt Er ganz frech anzuschwellen...“ „Robert, Robert“, versuchte der hochrote Cousin, nach Luft schnappend, das Gespräch eiligst in eine andere Richtung zu lenken, wobei er um sich schaute. Nach Luft schnappte er, weil es heiß war, und vor all den anderen irgendwie peinlich. „Robert - aber wo bleibt denn unser Franz?“ „Was weiß ich“, sagte lüstern K mit Roberts Stimme und blickte mit leicht zugekniffenen Augen gierig in Richtung des mit Fleisch beladenen Tisches. Alle warteten auf Franz. Alle drei Sofas und die vier Sessel im Zimmer waren besetzt. In der Mitte stand ein niedriger Tisch, beladen mit Schnaps, Bier und Vorspeisen, daneben raschelten Kleider auf Haut, wanden sich Finger verschiedenster Dicke. Beringte Finger, die in rot lackierte Nägel mündeten, ließen ein Lachsschnittchen schweben, grobe Fleischerfinger mit stumpfen Enden hoben einen Löffel voll tropfender Krabben ins Licht, lange Finger, die sonst in Finanzbüchern blätterten, glitten über die Hüften eines Glases. Mit gebratenem Schenkel versuchten fettige Finger mit durchsichtigen, rissigen Nägeln Wortschwärme auseinander zu jagen. Glänzende Biergläser spiegelten Gesichtsfragmente, reflektierten die Lichter des Kristallleuchters, es bewegten sich mächtige Unterkiefer und redeten von Krediten und grandiosen Plänen. Hübsch hergerichtete Frisuren lauschten verständnisvoll Ausführungen zu schlank machenden Kleidermodellen. Die Blicke mehrerer Anwesender wanderten durch die angelehnte Tür hinüber in das größere Nebenzimmer, in dessen Halbdunkel ein ausladender, reich gedeckter Esstisch unter einem phantasievoll drapiertem Seidentuch stand. Der lange Tisch erinnerte an ein zwischen Wellenbrechern (den Sesseln) vertäutes Fischerboot, beladen mit allerlei Schätzen. Dann wurde über die Ausgaben der Eltern für den Geburtstag ihres Sohns spekuliert. „Einfache Mathematik“, flüsterte Frau Dietl (Franz' Tante väterlicherseits), „unter einem Tausender geht gar nichts.“ „Jaaa“, fügte Frau Riedl an, „und dazu noch diverse Geschenke. Die Übernachtung im Hotel für die von weiter her Angereisten. Die Leute sind ja keine Millionäre. Und dann, wer garantiert eigentlich, dass Franz die elterliche Mühe auch zu schätzen weiß? Natürlich, Franz war immer ein folgsames Kind, aber mit wem ist er befreundet? Also ich persönlich weiß nichts darüber. Vielleicht ist er ja homosexuell?!“ Errötet sah Frau Dietl hinter sich, ob nicht ein mystischer Schwuler versteckt hinter den teuren Vorhängen lauerte um im Gästezimmer irgendetwas anzustellen. Etwas Unmoralisches! „Stellen Sie sich vor“, fuhr sie flüsternd fort, „einmal, als ich in Franz' Zimmer trat und ihn zum Mittagessen rufen wollte, da lag der Telefonhörer auf dem Tisch. Ich dachte, Franz bereite sich auf die Prüfungen vor und habe nach dem Gespräch vergessen aufzulegen. Ich nahm den Hörer in die Hand und am anderen Ende atmete jemand. Ich sagte: Dietl am Apparat, am anderen Ende summte jemand, hörte Musik und spazierte klappernd auf hochhackigen Schuhen durchs Zimmer.“ Mit gerunzelter Stirn fragte Frau Riedl nach: „Wer klapperte denn dort, ein Mann oder eine Frau?!“ Unklar. Frau Dietl hörte nun ihrer Cousine Riedl aus Münster zu, knabberte schwitzend an ihrer Schokonusstorte und schlürfte kalt gewordenen Kaffee. Beide waren Rentnerinnen und besuchten gerne Verwandte. Cousine Riedl hatte früher als Schaffnerin in Vorstadtzügen gearbeitet und hatte mochte kurze Sätze. Manchmal schien es, dass sie mitten im Gespräch aufstehen und die anderen höflich auffordern wollte: Die Fahrscheine bitte. „Also“, erzählte die Cousine, die das halbe Sofa einnahm, „ich fuhr 1959 nach Kassel um ein Praktikum zu absolvieren. Anderthalb Stunden dauerte die Reise. Ein junger Mann stieg ein und setzte sich neben mich. Er sah überaus sympathisch aus. Er sagte, er studiere Jura. An seinen Namen erinnere ich mich bis heute – Rainer. Irgendwie kamen wir uns näher. Der Waggon war leer und draußen blühte der Flieder. Er küsste mir die Hände, drängte mich in die Ecke und sagte zweimal: Heirate mich bitte.“ Die Cousine trank ihr Gläschen Pflaumenschnaps aus und musste husten. „Also, heirate mich und wir werden glücklich sein.“ Die Cousine verstummte kurz, dann fuhr sie, trauriger zu Boden blickend, fort: „Nun ja, nach einer Stunde, wir hatten Schürstchen kaum erreicht, stand er kreidebleich auf und sagte: Mein Gott, ich habe wichtige Dokumente vergessen. Und dann sprang er aus dem Zug, Frau Dietl. Und dort wurde er von einem Fräulein mit Kinderwagen erwartet. Sie winkte und rief: Albert, Albert, hier sind wir!“ Die älteren Frauen aus Franz' Verwandtschaft hörten nickend den Erzählungen zu. Sie trugen glitzernde dunkelblaue, grüne oder schwarze Kleider und erinnerten an alte Geier, die auf warmen Feldsteinen dösten. Ihr Gesamtalter überstieg 700 Jahre. Es war die unbestrittene Erfahrung, die da mit faltigen Hälsen aus dem Plüsch der Lehnen um sich blickte. Die Erfahrung unterhielt sich flüsternd über neu verfasste Testamente und geldgierige Kinder. Es wurde sogar darüber diskutiert, wer den Sarg mittragen durfte und wer auf gar keinen Fall. Rundherum flatterten wie Schmetterlinge ihre Enkel – die Mädchen mit rosa Bäckchen, die elfenhaften Knaben mit akkuratem Scheitel und in weißen Hemden. Sie waren unschuldig. Entschuldigend schauten ihre Väter und die bereits angegrauten Onkel in die Runde. Da betritt schüchtern ein Halbwüchsiger in einer grünen Schützenlederhose den Raum (Franz' Neffe von Seiten der Tante), ohne zu wissen, was er mit seinen ruhelosen Händen beginnen sollte. Er schiebt einen Kaugummi im Mund hin und her und sieht sich schüchtern um, als sei er an einer öffentlichen Badestelle. Tante Therese, eine der Frauen in Dunkelgrün, lächelt nach rechts und links, macht, zur Seite rückend, ein wenig Platz auf der Couch und läßt versehentlich Kaffee aus der Porzellantasse auf die Knie fließen. Da grinst der Halbwüchsige, denn Tante Therese erinnert ihn an die übergewichtige Pute im nassen, grünen Federkleid aus einem Trickfilm, er kann ein Prusten nicht zurückhalten, so dass sein versehentlich aus dem Hals herausgeschossener Kaugummi auf den Tisch fliegt. Alle heben den Blick von ihren Tellerchen und unterbrechen die Gespräche. Nun verfällt Tante Therese in ein lautes Lachen, sie schnappt nach Luft, trut-trut-trut, genau wie eine Pute, sie fuchtelt mit dem Taschentuch vor ihren verquollenen roten Augen herum. Der Kaugummi hat den Teller voll getroffen! „Ach, das kann doch jedem passieren“, sagt sie, „das ist meeeenschlich“, sie schüttelt sich vor Lachen, sie wischt sich die Tränen ab, dann prusten ihre Nachbarinnen los und schon wiehern alle zusammen. Nur Onkel Olli, der natürlich nicht. Onkel Olli glich Feldmarschall Hindenburg, das wusste er und war wahrscheinlich insgeheim stolz darauf. Ein trotz des respektablen Alters gerader Rücken, ein schwarzer Anzug, ein grauer Bürstenschnitt und Koteletten. Eine Hand aufs Buffet gestützt, stand er im Zimmer und sah aus, als ob er gerade eine neu in Betrieb genommene Drehmaschinenhalle inspizierte. Er gehörte zur Nachkriegsgeneration, die Exaktheit und lange, ermattende, aber gut bezahlte Arbeitstage vergötterte. Um all das vorbildlich zu überstehen, turnte er morgens zum laut aufgedrehten öffentlich-rechtlichen Rundfunk.. Onkel Olli war überzeugt, dass durch ordentliches Aufwärmen ein Schlaganfall verhindert werden könnte. Genauso verhält es sich mit dem Motor eines Kraftfahrzeugs: Startete man ihn ohne aufzuwärmen, würden sich eines schönen Tages die Kolben festfressen. Allein der Gedanken, dass ein Fernverkehrszug haben und Franz sich deswegen natürlich unwohl fühlen könnte, versetzte ihn in Aufregung. So etwas wäre früher einfach nie möglich gewesen, die Leute reisten auf die Minute genau. Onkel Olli hatte vor, Franz ein Kuvert mit ein paar Scheinen zu überreichen und dabei einen Glückwunsch vom Blatt abzulesen. Der Wunschzettel befand sich in der linken Brusttasche seines Sakkos und der Umschlag mit dem Geld in der rechten. Onkel Olli fürchtete sich davor, im entscheidenden Augenblick die Taschen zu verwechseln und tätschelte deshalb ab und an zuerst die rechte Sakkotasche, dann die linke. In der rechten raschelte selbstverständlich der Umschlag mit dem Geld. Für die Damen auf dem Sofa schien es hingegen, dass Onkel Olli sich von Zeit zu Zeit ans Herz fasste, deshalb beobachteten sie ihn aus den Augenwinkeln ... Ins Zimmer trat Frau Pichler, die Mutter des Geburtstagskindes. Die Frau im grell geblümten Kleid, männliche Statur und Kurzhaarschnitt, bat die Anwesenden mit strengem Blick um Aufmerksamkeit. Die Mutter teilte mit, dass Franz sich wohl verspäten und voraussichtlich mit dem nächsten Zug um 16:30 Uhr eintreffen werde. Doch die warmen Vorspeisen warteten schon auf die teuren Gäste! Bitte alle an den großen Tisch! Sie machte die Tür zum Esszimmer weit auf und schaltete alle acht Lichter des Kristallleuchters ein. Die Gäste klatschten stürmisch, selbst Onkel Olli, breitbeinig im Türrahmen stehend, klatschte mit erhobenen Händen. Vorsichtig wurde das Seidentuch vom Tisch gehoben, die Arbeit vieler Stunden, ja Tage kam zum Vorschein. Eine wundervolle Märchenlandschaft aus funkelndem Tafelsilber und allerlei bronzefarben gebratenen Krusten öffnete sich. Neben opulenten Speisen standen kleine Porzellan- oder Bleifigürchen aus Franz' Spieltruhe. Hänsel und Gretel haben Aufstellung genommen vor der riesigen Spanferkelschnauze mit den hervorquellenden Radieschenaugen. Der einbeinige Bleipirat zog das Schwert gegen einen lebensgroßen Igel aus dreierlei Hackfleisch. Merlin winkte mit dem Zauberstab in Richtung des dampfenden Pilzsoßensumpfs, in dessen Mitte auf einer kleinen Petersilieninsel mohnbestreute Teigschwäne nisteten. Die sieben Zwerge tanzten im Reigen um den rosenblätterbeschneiten Porzellantopf mit Salat. Schneewittchen, das Pamela Anderson glich, stand oben auf der fünfstöckigen Jubiläumstorte mit den 50 noch nicht entzündeten Kerzen und winkte einem hinter dem Zuckerapfel versteckten Cowboy zu, der es erblickte, als Onkel Olli mit seinem kleinen Finger den Apfel vorsichtig ein paar Zentimeter zur Seite schob. Alle warteten doch auf Franz.