Darius Gircys

Der Kuckuck

wann ist das denn

„Ein klarer Gedanke, wissenschaftlich begründet“, führte vom Podium herab unser Studienleiter M. aus, „ist wesentlich bedeutsamer als trübe Leidenschaften in geschlossenen Sitzungen unserer naturwissenschaftlichen Fakultät.“ M.s Reden erinnerten an das langsame schwere Schnaufen einer übergewichtigen Dampflokomotive bei ihrer Einfahrt in einen überfüllten Bahnhof. „Ich (Quietschen rostiger Bremsen) würde zum Schluß gern an die gemeinsame Pflicht erinnern, die Natur sorgfältigen zu studieren und zu schützen oder wenigstens das (Blick durch das beschlagene Fenster des Lokomotivführerstandes), was von ihr übriggeblieben ist.“ Die Zuhörer schauten zustimmend um sich und begannen höflich zu applaudieren. Aus der zum Stillstand gekommenen Lok entwich endlich, gehüllt in weißen Dampf, ein Pfiff, es schlugen die Waggontüren und der Gemanistikprofessor schrie mir in dem Getümmel ins Ohr: „Weißt du, die Sprache der Vögel ist eine interessante Sache. So spricht z. B. der Kuckuck in unseren litauischen Wäldern ein einfaches ku-ku ku-ku, doch sobald man die deutsche Grenze passiert, wird das offene u vom dunklen k eingeschlossen und man hört kuckuck kuckuck.“ (Damit ich mir dies merken könne, schrieb er mir das Wort Kuckuck in deutscher Rechtschreibung auf einen Zettel.) Er (der Professor) hatte nicht die leiseste Ahnung, daß er eben einen der bedeutendsten Sätze meines Lebens geäußert hatte. Nach dem Studienabschluß an unserer Universität habe ich mich intensiv mit den Migrationsbewegungen unserer gefiederten Freunde aus der Heimat in die Fremde beschäftigt und dabei meine Forschungen, ausgehend vom Kontext unseres Heimatlandes, sukzessive international ausgeweitet. In der Hoffnung, die doppelte Herkunft des Singsangs zu entschlüsseln, verstaute ich die Vogelfangnetze im Koffer und reiste zum Studium der Natur ins Ausland. Ich wanderte durch einen ordentlich in Quadrate aufgeteilten und mit Informationstäfelchen ausgeschilderten deutschen Wald und flötete (um nicht aufzufallen) das deutsche kuckuck kuckuck vor mir her. In feuchten Tannenwäldern, die etwas an unsere Wälder bei Alytus erinnerten, versuchte ich es mit der litauischen Variante. Ich rief auf litauisch in den Wald hinein, in der Hoffnung einen unserer geflügelten Emigranten aufzuspüren, erhielt jedoch nur Antworten seiner deutschen Artgenossen. Diese waren in der Regel beringt, sangen nur in dem jeweils abgegrenzten Gebiet, von dem die jeweilige Tafel kündete, erregten sich über den von mir ausgestoßenen Singsang, stellten die Verbringung ihrer Eier in die mit dem Schriftzug „fremd“ gekennzeichneten Nester ein und beschwerten sich bei den Spechten, die aus eigenem Antrieb die Beschwerde an das Forstamt weiterleiteten. Es setzte daraufhin eine Verfolgung meiner Person durch eine Reihe amtlicher Vorladungen ein, in denen ich aufgefordert wurde, mich an dem und dem Tag dort und dort einzufinden, unterzeichnet von dem und dem. Ich ignorierte all das, da mich allein die Wissenschaft interessierte und fand nach langer Wanderschaft endlich unseren Kuckuck hockend auf einer Bank in einem Park der Hauptstadt. Er inspizierte schüchtern mit den (für seine Rasse Cuculus canorus ungewöhnlich großen) Augen die gepflegten, wie schwarzer Bernstein glitzernden Krallen und kuckuckte in zwei Sprachen. Sein einzigartiges Leben wurde gerade vom deutschen Fernsehen verfilmt, die Kameras summten und die Ornithologen kommentierten jede Bewegung des Vogels. Nach dem die ersten freundlichen Worte live über den Sender gegangen waren, wurde klar, daß die Kollegen im Internet auf Berichte über den Nestbau unseres Vogels gestoßen sind und sich außerdem sehr für die Stärke des Eises in weißrussischen Sümpfen während des Winters interessierten. Aus ihren Augen strahlte kalt systematisch katalogisierte Erfahrung während aus meinen die Geduld eines lang gequälten Volkes glühte. „Als ich noch ein kleines Bürschlein war, ging ich zum Plötzenfischen auf zugefrorenen Seen“, mischte ich mich spontan in die trockene wissenschaftliche Diskussion mit dem Wunsch ein, dieser eine lebendige Note beizufügen. Der Kuckuck lachte mit der verlebten Stimme einer alternden Matrone direkt in die Kamera, sah in mein erblassendes Gesicht (in der Regel spricht ein Kuckuck nicht) und sagte: „Der See jedoch, an dem Nikolaus Kopernikus in seiner Kindheit zum Plötzenfischen war, ist ausgetrocknet, allein der Felsbrocken, von dem er nach vorn gestreckt das tiefe Gewässer studiert hat, ruht unverrückt an seinem Platze. Ein mit Blumen geschmücktes Rondell befindet sich heute dort.“ Ich verabschiedete mich vom schweigenden Fernsehpublikum und fuhr, um das genannte historische Faktum einer Prüfung zu unterziehen, mit dem vom Kameramann geliehenen Motorrad los. Der Kuckuck hatte die reine Wahrheit verkündet. Als ich den Stein des Kopernikus gefunden hatte, umkreiste ich diesen zweimal. Einmal von rechts (von Thorn aus) und, ein wenig verlangsamt, anders herum von links. Zum Beweis pflückte ich vom gepflegten Blumenbeet einen Strauß und fuhr umgehend zurück, um weiter an der wichtigen Fernsehdiskussion teilnehmen zu können. Es erwies sich, daß der Kuckuck vom Rahmen des geöffneten Oberlichts dem erwachsenen Kopernikus über die Schulter gelugt und mitgelesen hatte, als dieser seine Erkenntnis von der Erde als einem von neun Planeten des Sonnensystems mit der Feder aufs Pergament kratzte. Seitdem ist er von dem Gedanken besessen, daß man die Eier auf den anderen Himmelskörpern ablegen sollte, sagen wir mal, in roten Marsfeldern oder auf dem geheimnisvollen Saturn. Er versuchte in die Stratosphäre einzudringen, doch da der Sauerstoff fehlte und die Flügel vereisten, war er gezwungen umzukehren. Ich vernahm in diesem Satz einen Hymnus auf die himmlische Evolution und entschloß mich am Ende der Sendung, einen Brief an die russischen Kosmonauten zu schreiben, mit der Bitte unseren Kuckuck an Bord eines Raumschiffs zu nehmen. Ich erhielt die Zusage unter der Bedingung, daß ich den Vogel auf die Schwerelosigkeit vorbereite und ihm die russische Sprache beibringe. Den Kuckuck setzte ich in ein 5-Liter-Einweckglas und lies dieses an einem Seil zuerst im Uhrzeigersinn um mich herum kreisen und danach mit erhöhter Geschwindigkeit in der Gegenrichtung. Beklagt hat sich der Kuckuck darüber nie und er begeisterte sich für das Werk des russischen Literaturklassikers Bunin. Während der Hausaufgaben merkte er wiederholt an, daß ihm Bunins Held Arsenjew geistig nahe stehe. In schwierigeren Unterrichtsmomenten erinnerte ich mich an das gleichzeitig offene wie schüchterne Lächeln Juri Gagarins, so wie es mir aus älteren Zeitungen in Erinnerung war. Wir trafen die Vereinbarung, daß während seiner Abwesenheit ich an seiner Stelle im Wald den Kuckucksruf ertönen lasse und er mich benachrichtigen werde, sobald das Kuckucksei in einem anderen Teil des Alls abgelegt ist. Unser Kuckuck wurde von den russischen Kosmonauten mitgenommen und ich kehrte zurück in den Wald. Da ich die Sprache der Vögel perfekt beherrschte, kuckuckte ich auf der von der Abendsonne beschienenen Waldlichtung. Ich wartete auf ein Zeichen. Ich hoffte darauf, eines Abends das kuckucken von oben hören zu können doch dann setzte eine Treibjagd auf mich ein, solange, bis es gelang, mich mithilfe eines über meinen Kopf geworfenen Fangnetzes einzufangen. Unter Anschuldigung der Belästigung der Natur ersten Grades wurde ich hinter Gitter gebracht. Vor Gericht verweigerte ich sämtliche Erklärungen in menschlicher Sprache und begann auf Vogelart zu singen. Eine sich wiederholende Sequenz von der unvermeidlichen Veränderung allen Lebens im All in meine Ausführungen einflechtend sang ich mein Leben. Ich schloß meine Erzählung mit einem Trillern über das Wunder der außerirdischen Herkunft und wandte mich in der Hoffnung auf ein mildes Urteil an den obersten Richter. Der Richter erhob sich, öffnete das vergitterte Fenster in seiner gesamten Breite und schrie aus voller Kraft in den grauen Gefängnishof kuckuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu. Der Gerichtssaal erstarb in Schweigen und einige Augenblicke später erschallte fern hinterm Wattewolkenmeer aus der Tiefe des Himmels ein sehr leises aber verständliches kuckuck.