Darius Gircys
Ein unschuldiges Wesen
2010
Auf der anderen Seite der Republik ruht sanft gewellt das Meer. Ein zeitiger Frühling, leere Strände rundherum. Gut zehn Meter vor Rainer schlurft, gehüllt in einen roten Sari, eine Frau mittleren Alters. Die Wellen stupsen mit Schaumfingern gurgelnde Plastikflaschen an den Sandstrand. Im Gestrüpp der Dünen, im Kopf, oder treffender gesagt, in Intervallen zwischen den Gedanken, erschallt das Nebelhorn. Sobald die Tage wärmer werden, überlegt Rainer, springe ich ins Wasser und lasse mich auf seiner gleißenden Oberfläche treiben. Das Unterbewusstsein enthält ein Reservoir, in dem sich Milliarden Jahre Erinnerungen schichten. Sie werden durch das Genmaterial übertragen. Die Gene kennen die Route, der sie folgen müssen. Einige der Gene sind aller Wahrscheinlichkeit nach Testpiloten, die im Verlauf der Evolution unvermeidlich abstürzen. Manche Piloten werden am Boden bleiben, murmelt Rainer in Richtung der grauen Himmelsfläche. Ein bekanntes Gefühl, oder? Rainer hält Ausschau nach verlorenem Geld und vergessenen Gegenständen. An guten Tagen findet er vielleicht so an die zehn Euro. Der Wind poliert die Münzoberflächen, das Messing glänzt wie zusammengekniffene Katzenaugen im schwärzlichen Sandfell. Die Frau läuft in Richtung Kap, an dessen Ende sich ein weitläufiges Panorama entfaltet. Frauen, die sich in Richtung Kap bewegen, tragen im Allgemeinen handgestrickte Klamotten und schleppen in einer abgeschabten Tasche aus Flechtwerk ein abgegriffenes Buch, Zigaretten sowie etwas zu trinken mit sich herum. Die fortgeworfenen Pfandflaschen sammelt Rainer in seinem Rucksack. In der Hoffnung auf eine neue Flasche muss er sich jedoch davor hüten, einen Trinker allzu penetrant anzustarren, denn es könnte gut möglich sein, dass er die noch halbvolle Flasche an die Rübe geknallt bekommt. Rainer merkt sich Gesichter nicht, da er niemals, aus oben erwähnten Gründen, jemandem direkt in die Augen blickt. Er lässt sich in der Nähe nieder und richtet seinen Blick auf ein entferntes Gesträuch. Er kann warten. Zwei Schritte hinter Rainer schlurft Bernd. Er murmelt etwas in seinen Bart und starrt dem in die Ferne entgleitenden Zug hinterher. „Vollkommen geräuschlos“, murmelt er. Die Landschaft vibriert, doch er vernimmt keinen Laut. Sehen kann Bernd auch nicht besser, obwohl er vor nicht allzu langer Zeit im Kreise von Ortsansässigen am Rettungshäuschen aus dünnem Stahl einen Zaun mit bemerkenswerter Ornamentik geschweißt hat. Er reckte seine Schweißermaske in die Höhe, schnaubte giftige Popel aus seiner Nase und wandte sich mit den Worten „Hier sind die schwarzen Lilien“ an die gaffende Zuschauermenge. Freunde jedoch erkennt er nicht einmal auf einen Meter Entfernung. „Beeernd“, schreit Rainer. „Aaah, du bist's“, grinst, wie alle Sehbehinderten, Bernd mit zusammengekniffenen Augen. Er greift nach Rainers Rechter, als wollte er ihm nach dem Zusammenflicken eines geplatzten Rohrsystems seine ölverschmierte Hand aus einer Kellerluke entgegenstrecken. Nun bummeln sie in trauter Zweisamkeit, Bernd in schwarzer Schweißermontur, Rainer mit entsetzlichen Fragen zum Einfluss von Panzim Goa, seiner Lieblingsmusik. „Goaaa“, schreit Rainer den Beginn seiner Frage seinem Kumpel Bernd ins behaarte Ohr. Bernd läuft mit tauben Ohren grinsend und genießt vermutlich mit seinen schwachen Augen die Schemen der äußeren Welt mit dem sich bewegenden roten Punkt. Rainers Fuß stößt im Sand an einen schlaffen Ball. Er kickt ihn Bernd mit rechts zu und dieser pariert mit links. Durch die Nähte spritzt braune Glibbermasse, der Sand knirscht. „Früher habe ich mein Herz mit der Schöpfkelle nach links und rechts verteilt“, artikuliert Bernd laut einen Gedanken und rammt seinen Schuh in den Ball. „Heute allerdings verteile ich es höchstens mit dem Teelöffel ...“ „Wovon redest du“, fragt Rainer den Ball zurückspielend, obwohl er weiß, dass er keine Antwort bekommen wird. Sie gelangen an einen in die See mündenden Fluss, der wohl eher ein Kanal ist. Von der alten Brücke sind einzig ein paar mit Moos überzogene Pfähle übrig geblieben. Die Frau im roten Sari hat Angst ans andere Ufer zu waten und bittet die beiden, sie auf dem Rücken hinüberzutragen. Rainer, belesen in buddhistischen Fabeln von Meistern und Schülern sowie dem Verlangen der Frauen, lehnt dieses Begehren ab. Der Schüler schleppt nicht, der Meister schleppt. Der Schüler grübelte der Frage nach, weshalb der Meister sich der Mühe unterzogen hat, diese hässliche Frau hinüberzusetzen. „Das alles erinnert an einen Bärendienst, den ich mir selbst erweise“, murmelt Rainer. Aus zwei Gründen ist Bernd geeignet, die Frau hinüberzubringen: er sieht schlecht und hört nichts, lesen kann er höchstens Werbeschilder. Buddhistische Fabeln sind ihm wurscht. Die Frau mit ihrem dicken Hinterteil ist schwer zu tragen, wie ein Sack, außerdem besteht die Gefahr, auf den glitschigen, bemoosten Steinen auszurutschen. Ein Gefühl der Scham bedrückt Rainer und er ist neidisch auf Bernds stählerne Muskeln. Die Frau umarmt grinsend die Schulter ihres Trägers. Das andere Ufer ist beinah erreicht, da versinken die Männer plötzlich bis zu den Ohren in einem Unterwassergraben. Vielleicht der Einfluss der Gezeiten. Bernd taucht unter, während sich die Frau kreischend am Wasser verschluckt und die Wasseroberfläche mit den nassen Sariflügeln traktiert. Bernds Kopf taucht auf, der Kopf der Frau taucht unter, Bernd versinkt vollständig, Rainer schreit und krault Richtung Ufer. Bernd taucht erneut unter in der Hoffnung die Frau zu retten. Rainer, bis zur Hüfte im Wasser stehend, sieht, wie die Strömung den roten Sari ins offene Meer treibt. Ans andere Ufer gelangt, haben sie einander nichts zu sagen. Und was gäbe es überhaupt zu sagen, keiner der beiden hat die Frau herübergebracht. Unerwartet tritt Rainer Bernd in die Magengrube, als Antwort zerschmettert Bernds Faust Rainers Nase. Beide schweigen hechelnd und starren sich böse an. Wasser tropft von den Hosenbeinen und versickert spurlos im schmutzigen Sand. Der rote Sari, wahrscheinlich aus synthetischem, wasserfestem Material, entschwindet mit der Strömung als winziger verglimmender Punkt. Benvenuto Cellini schildert in seinem Buch „Das Leben“, dass er im Alter von fünf Jahren gesehen hatte, wie sich in den Flammen des Ofens eine einer Eidechse gleichende Kreatur bewegte. Er eilte ins andere Zimmer, um seinem Vater davon zu berichten. Der antwortete nachdenklich, dass es sich um einen Salamander handelte, und begann sofort Benvenuto zu züchtigen. Möge diese einzigartige, äußerst seltene Vision sich in dein Gedächtnis einschreiben, schrie der Vater beim Austeilen der Ohrfeigen.
Falls mich jemand einladen würde Zeichnen an der Kunsthochschule zu unterrichten, würde ich bereits am ersten Tag mit glänzend glatt rasierten Wangen vor der ungeduldig summenden Klasse stehen, dachte Rainer und kratzte sich über seine Stoppelborsten. Den Krawattenknoten etwas enger ziehend und die Hacken zusammenschlagend würde ich meinen Studenten mitteilen: Und nun, meine Lieben, werden wir mit schwarzer Tusche auf einem Bogen großformatigen Papiers einen kleinen Schmetterling zeichnen. Die Wirkung, die sich Ihnen bietet, wird ungefähr die folgende sein: Sie halten den Bogen gegen das Licht, sodass der Eindruck entsteht, ein Schmetterling ließe sich auf der einen Seite des milchigen Blattes nieder, während Sie mit angehaltenem Atem auf der anderen Seite lauern. Halten Sie mit beiden Händen den pulssanft vibrierenden Bogen so, dass der eben gezeichnete Schmetterling nicht fortzufliegen vermag. Und dem misstrauischen Leser, der aus der Tiefe des Klassenzimmers diese rührende Szene beobachtet, wird Rainer, so hat er entschieden, einen klassischen Fall von Paranoia vortragen. Gemäß der Legende träumte einst der Mönch Dschuang Dsi, dass er ein Schmetterling sei, und zerbrach sich nach dem Aufwachen den Kopf, ob er nicht Dschuang Dsi sei, der von einem Schmetterling geträumt wird. Meine Flügel sind im Vergleich zum flaumbehaarten Riesenkörper unverhältnismäßig klein, betrachtete stirnrunzelnd der Mönch seine kräftigen Arme. Gerüchte über die ungewöhnliche Haartracht Dschuang Dsis machten die Runde. Jeden Abend kappte der Mönch in einem exakt geraden Schnitt mit einem Rasiermesser die mit der Geschwindigkeit von Unkraut in Richtung Kragen nachwachsenden Nackenhaare. Um Schnittverletzungen vorzubeugen und nicht schief zu schneiden, benötigte er drei gewölbte Spiegel. Der Mönch glaubte, dass die Linie des Hinterkopfs mit dem Strich des Horizonts zusammenfließen müsse. Es ist vollkommen belanglos, dass sie über die fette Erde laufen, mit ihrem Kopf sind sie höher als die Sünden fern am Horizont, dachte, zärtlich die Nacken seiner treuen Schüler streichelnd, der Mönch. Wahrscheinlich vermag der Leser sich eines dieser marmorgefliesten Frisiersalons erinnern: Soll der Schnitt höher angesetzt werden und was soll mit den Koteletten geschehen? Betrachten Sie sich wie ein römischer Konsul im Spiegel, drehen Sie Ihr Profil über die mit einem weißen Tuch drapierten Schultern leicht in beide Richtungen. Über den Nacken streicht der Atem der Friseuse und aus der Tiefe ihres Dekolletés ertönt leise lockend der Klingklang eines goldnen Sternenkettchens, im Ohr rauscht heiß der Fön. Schnipp, schnipp, schnipp, spricht die eine Schere, schnapp, schnapp, schnapp antwortet die andere. Ist die Frisur vollendet, wird das Tuch hinweggezogen wie von den Schultern einer Statue. In der Form perfekt, so das Fazit jedes gestandenen Friseurs. „Falls es Sie interessiert“, sprach, während er in einen an den Rändern schwarz angelaufenen Spiegel starrte, am Ende seines Lebens der Opernschöpfer Salieri, „mich mochten irgendwann alle und ich mochte mich selbst“. Und falls wir über den jetzigen Moment reden würden? Der Teich und der Stern. Die Nacht. Teich und Stern gehören nicht zusammen, sind jedoch miteinander verbunden, sinnierte Dschuang Dsi, beim Umkreisen eines stillen Gewässers. Die Wasseroberfläche wird gekräuselt von tausenden sich paarenden Fröschen. Diese kehligen Paarungsgeräusche stören beim Nachdenken über die Einheit von Himmel und Erde, notierte der Mönch und fügte den Gedanken hinzu, dass der Frosch kalt sei wie das Sternenlicht, das sich in seinen schleimigen Augen spiegelt. Aber welchen Nutzen kann ich aus diesen Augen ziehen, dachte er bei der Erinnerung an einen anderen Mönch, der jahrelang die magische Kunst des Drachentötens studierte, ohne je die geringste Möglichkeit zu erhalten, dieses Wissen in seinem restlichen Leben anzuwenden.
Steine, geschleudert von dörflichen Rabauken, zersplittern die Sterne, die sich im Wasser spiegeln. Der Mönch schaute um sich, ob niemand ihn beobachtet, griff sich eine Stein und schleuderte diesen mit voller Kraft auf den soeben aufgeschienenen Stern. Beim Auftreffen lachte er laut auf, der Stern wellte sich in alle vier Richtungen bis er verschwand, wahrscheinlich hinter den Wolken. Die glatte Wasseroberfläche ist ebenfalls ein Horizont, grinste Dschuang Dsi und watete bis zur Schnittlinie in die Tiefe. Die Wolkendecke riß und sämtliche Sternenschwärme leuchteten wieder im Wasser. Es war unschuldiges Kinderlachen zu vernehmen sowie das Klatschen der Steine. Von Dschuang Dsi hat niemand mehr irgendetwas gehört, und natürlich hat niemand Rainer das Angebot unterbreitet die Kunst des Schmetterlingszeichnens zu unterrichten. Dass Autodidakten nicht den blassesten Schimmer von Pädagogik haben, wissen doch alle.
Nur das Tier ist im wahrsten Sinne unschuldig, schrieb Hegel zu Beginn seiner Geschichte der Philosophie. In jedem Menschen steckt ein ein Tier, fasste, fasziniert von der Hegelschen Sichtweise, das er zu Zeiten seines Studiums studiert hat, der Autor die im Spiegel beobachteten Eigenschaften seines Gesichts zusammen. Der Autor verdächtigte die schlechten Gene, ja die nutzlosen kranken Gene, sich von Beginn des Leben in seinem minderwertigen Körper eingenistet haben, außerdem haben sie ständig versucht, zu anderen Körpern zu stürmen. Die Natur schrie, nein, sie zwang dazu, den feuchten Boden umzupflügen und im dunklen Gebüsch, weiß der Teufel was, zu suchen. Überlegen Sie mal, die Evolution benimmt sich beinah wie ein Zuhälter! Aber warum hat sich ausgerechnet jetzt diese unhöfliche, fast 3 Millionen Jahre alte Dame entschieden, ihn zu einer Lachnummer im Spiegel zu degradieren? Ja, und Sie, kennen Sie „Menschen“ mit länglichen Ohren wie beim Esel, mit Hasenzähnen, Pferdegebiss, Fischaugen? Nach Hund oder Katze stinkende Kreaturen. Mit gespaltener Zunge alles versprechend und langsam den sich nach Streicheln sehnenden Schwanenhals erwürgend. Vielleicht ist der Eigensinn der Natur im Privatleben schuld? Aus der genaueren Betrachtung eines beliebigen Vogelskeletts können wir leicht Rückschlüsse auf mesozoische Reptilien ziehen. Man muss nur die Federn rupfen. Und diese langen, ständig nachwachsenden, rot lackierten Nägel eurer Kolleginnen, machen die euch keine Angst? Der Autor der Erzählung inspizierte seine gefletschten Zähne im Spiegel, die braun verfärbten Reißzähne besaßen noch genügend Schärfe. Und die sensiblen Nüstern drängten dazu, an einen mit schwarzem Fell zugewachsenen Wildschweinrüssel zu denken. Bei noch genauerer Betrachtung war die gesamte Halspartie mit grauen Stoppeln verwachsen, die Augen klein, rötlich und wütend. Der Autor der Erzählung spürte, dass das im Spiegel ansichtige Wildschwein sich zum Angriff bereit macht. Diese Tiere sind in der Paarungszeit tatsächlich eine Gefahr, erinnerte er sich an die Erzählungen von Jägern bei Tisch in seiner Kindheit. Seine flatternden Nerven kaum beherrschend, zog er vorsichtig ein geschmolzenes Schokoladenstückchen aus der Hosentasche und lockte das vertrauensselige Tier näher zu sich heran und presste es in das halboffene Maul. Das starrte den Spiegel an und schmatzte gleichgültig, malmte und rülpste immer wieder. Der Autor der Erzählung zog, dabei rasche, bedrohliche Bewegungen vermeidend, mit leicht ängstlich zitternden Händen aus der anderen Tasche ein Klappmesser und stieß das Messer bis zum Heft in den Hals des ahnungslos glotzenden Wildebers.